Große Teile der deutschen Wirtschaft scheinen die digitale Transformation zu verschlafen. Wir müssen jetzt die Weichen stellen, um in Sachen Digitalisierung wieder Anschluss an die Weltspitze zu finden.„Netzausbau, Cybersicherheit und die Förderung der digitalen Wirtschaft – das sind die zentralen Themen des digitalen Wandels in Deutschland.” Dieses Zitat stammt nicht etwa aus der Zeitung von vergangener Woche. Es ist eine der Kernaussagen der Digitalen Agenda, die die Koalitionsparteien bereits im Sommer 2014 vorgestellt haben. Mit gezielten Maßnahmen solle Deutschland innerhalb von drei Jahren digitales Wachstumsland Nummer eins in Europa werden. Gleichzeitig forderte man die gesamte Gesellschaft auf, sich in die digitale Transformation einzubringen.
Seitdem ist Zeit genug vergangen, um diesen Wünschen konkrete Taten folgen zu lassen, möchte man meinen. Wie steht die deutsche Wirtschaft in Sachen digitale Transformation inzwischen da? Wir haben uns einmal die Mühe gemacht, aktuelle Quellen zum Thema auszuwerten und eine Momentaufnahme der Digitalisierung in Deutschland zu erstellen.
Symptomatisch für die aktuelle Situation in Deutschland ist die Verfügbarkeit von schnellen Internetverbindungen. Aktuell werden 92 % der deutschen Haushalte vom bestehenden mobilen Highspeed-Netz (3G) abgedeckt. Damit ist Deutschland Schlusslicht in Europa. Der EU-Durchschnitt, in den Länder wie Bulgarien und Rumänien eingerechnet sind, liegt bei 98 %. Bei den Breitband-Anschlüssen insgesamt (mobil und Festnetz zusammen) liegt Deutschland laut dem „Digital Economy and Society Index” (DESI) in Europa nur auf Platz acht. Jeder, der im Grünen wohnt, kann ein Lied davon singen.
Immerhin macht die Digitalwirtschaft in Deutschland mittlerweile 5,4 % der Gesamtwirtschaft aus, womit wir über dem europäischen Schnitt liegen. Trotz etablierter Digitalstandorte wie Berlin oder Hamburg kommen die Innovationen nach wie vor von der anderen Seite des großen Teichs. Weder bei den Start-ups noch bei den etablierten Unternehmen können wir den USA das Wasser reichen, auch wenn der Vorsprung kleiner wird. Von den 20 nach Marktkapitalisierung größten Internetunternehmen kam 2015 keines aus Europa. Es verwundert nicht, dass Deutschland in der digitalen Welt alles andere als Exportweltmeister ist. Gegenüber den USA besteht ein Handelsdefizit von 4,2 % – wir sind also eher digitale Konsumenten denn Produzenten.
In den „traditionellen” Branchen kommt die digitale Transformation nicht so richtig voran. Laut McKinsey sind die Sorgenkinder vor allem kapitalintensive Branchen wie die Fertigungsindustrie, überwiegend staatliche Sektoren wie das Gesundheits- und Bildungswesen sowie fragmentierte und lokale Branchen wie Bauwirtschaft und Hotelgewerbe. Auch die Transport- und Logistikbranche befindet sich noch überwiegend im digitalen Dornröschenschlaf. „Der Digitalisierungsgrad der deutschen Industrie ist aktuell sehr viel geringer, als man es erwarten würde”, so das Resümee.
Die deutsche Wirtschaft brummt dank starker Industrie und hohem Innovationstempo. Das wird sich in den kommenden Jahren sicher nicht ändern. Insofern besteht erstmal kein Grund zur Panikmache. Deutschland ist in der digitalen Welt ganz gut dabei und insgesamt gesehen in Europa unter den Top Ten. Experten bescheinigen der deutschen Wirtschaft deutliche Fortschritte bei den Zukunftsthemen Internet der Dinge und Big Data. Aber ist „Ganz gut” für uns als viertstärkste Volkswirtschaft der Welt wirklich der Anspruch?
Heute werden die Weichen für unsere Wirtschaft in 10, 20 oder 30 Jahren gestellt. Deshalb müssen wir jetzt verstärkt in Digitalisierung investieren, solange der Zug noch nicht abgefahren ist. Dann haben wir gute Chancen, langfristig einen Spitzenplatz in der digitalen Welt neben den USA und der starken asiatischen Konkurrenz zu belegen.
Der Mittelstand sei das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, so wird es von allen Seiten betont. Für die digitale Transformation gelte das allerdings ganz und gar nicht, stellt die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) in ihrem jüngsten Gutachten fest. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) hierzulande seien so wenig innovativ wie fast nirgendwo sonst in Europa. Die Bereitschaft, in Innovationsaktivitäten und Forschungsprojekte zu investieren, habe seit Jahren abgenommen. Die KMU scheuen das hohe finanzielle Risiko, das Forschungsaktivitäten mit sich bringen, oder sie haben schlicht Probleme, eine Finanzierung auf die Beine zu stellen. Nachteile beim Recruiting von IT-Fachkräften gegenüber bekannten Großunternehmen spielen ebenso eine Rolle. Und selbst wenn man erfreulicherweise immer wieder über spannende digitale Start-ups in Deutschland hört, geht die Zahl der Gründungen insgesamt zurück.
Genauso wenig werden Verwaltungsdaten – zum Beispiel zu Wetter, Verkehr oder Kriminalität – in der Breite offen zur Verfügung gestellt (Open Government Data). Auf deren Basis könnten Privatunternehmen datengetriebene Geschäftsmodelle und schlaue Lösungen für gesellschaftliche Probleme entwickeln.
Es wäre schön, wenn es das eine Hindernis für stärkere Digitalisierung in Deutschland gäbe, das man einfach ausräumen müsste. Doch die Lage ist ein wenig komplexer. Auf jeden Fall hat die vorherrschende gesellschaftliche Gefühlslage beim Thema Digitalisierung großen Einfluss. Technologien wie autonomes Fahren oder Big Data rufen reflexhaft Warnungen vor dem fremdbestimmten, gläsernen Nutzer hervor, das Thema Cloud Computing steht für viele gleichbedeutend mit „Sicherheitsbedrohung” und Robotik mit Arbeitsplatzverlust. Unternehmen, die in diesen Bereichen forschen oder investieren, müssen sich permanent rechtfertigen.
Derartige Skepsis gegenüber Technologie finden wir auch in der aktuellen Gesetzeslage und Rechtsprechung, die, vorsichtig ausgedrückt, dem digitalen Markt nicht immer gerecht werden. Eine Webseite zu 100 % datenschutzkonform zu betreiben, ist im Prinzip gar nicht möglich. Die nervigen Cookie-Hinweise beispielsweise sind ein offensichtliches, wenn auch relativ harmloses Symptom dieser gesetzgeberischen Auswüchse. Kein Wunder, dass viele digitale Talente und Start-ups lieber ins Ausland gehen, wo sie freier agieren können und gleichzeitig bessere Finanzierungsmöglichkeiten vorfinden sowie gesellschaftliche Anerkennung für ihre Innovationen erhalten.
Des Weiteren bremst ein eingeengtes Verständnis von Digitalisierung den Fortschritt und verhindert Innovationen. Ist in Deutschland von Digitalisierung die Rede, ist meistens die IT-gestützte Optimierung von Beschaffungs-, Produktions- und Logistik- oder ähnlichen Prozessen gemeint. Außerdem fokussieren sich Initiativen zur Digitalisierung stark auf die Industrie und die Produktion, speziell den Automobilbau, wie die EFI im oben erwähnten Gutachten feststellt.
Beim Thema Robotik denken wir an stählerne einarmige Kollegen, die im Akkord Karosserien schweißen und Windschutzscheiben einsetzen. Roboter zur Pflege im Gesundheitswesen, als Berater im Einzelhandel oder als Haushaltshelfer dagegen stehen kaum im Fokus oder werden als Gadgets für Technik-Nerds belächelt. Dabei sagen alle Prognosen, dass der Markt für Servicerobotik die Industrierobotik in wenigen Jahren überholen wird.
Neue, datengetriebene Geschäftsmodelle in den Bereichen Mobilität, Handel, Sharing economy, Gesundheitsvorsorge, Bildung und Finanzwesen finden kaum Beachtung. Selbst ernannte Datenschützer und die traditionellen Platzhirsche der Branchen bekämpfen sie sogar. Beste Chancen, um die nächsten Mega-Trends und Märkte der Zukunft komplett zu verschlafen.
Ganz unabhängig jeglicher kultureller und gesellschaftlicher Befindlichkeiten ist die reale Bedrohung durch Cyberkrimininalität in Deutschland und weltweit nicht zu unterschätzen. Vor allem die Finanzindustrie ist gefährdet. Bereits 2015 gaben in einer Befragung von KPMG unter deutschen Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern 40 % der Befragten an, in den vergangenen zwei Jahren Opfer von Computerkriminalität gewesen zu sein.
Grund genug, sich auf diese Bedrohung einzustellen und in Sicherheitsmaßnahmen zu investieren. Erstaunlicherweise sahen aber nur 39 % der Befragten ein hohes oder sehr hohes Risiko, künftig selbst betroffen zu sein. Das passt zu den Aussagen eines Experten für Cybersicherheit, dass europäische Unternehmen verhältnismäßig weniger Geld für IT-Sicherheit ausgeben als die in anderen Regionen der Welt. Einerseits werden Risiken also unterschätzt, andererseits hält die Angst vor einem Imageschaden viele Unternehmen davon ab, offensiv mit dem Thema umzugehen.
Nicht zuletzt bremst der Mangel an IT-Fachkräften seit Jahren die digitale Transformation in Deutschland. „Wir würden ja gerne neue Projekte angehen”, hört man Unternehmer landauf, landab klagen, „aber wir finden einfach keine Leute dafür.” Laut Berechnungen des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) kommen auf jeden arbeitssuchenden Informatiker 3,5 offene Stellen. Und es sind nicht nur Informatiker – Nerds und Geeks – gefragt und gesucht, sondern auch Mitarbeiter mit breit aufgestellten Kompetenzen. Mitarbeiter, die neue Technologien zu nutzen wissen, um smart miteinander zu kommunizieren und sich zu organisieren.
Das deutsche Aus- und Weiterbildungssystem stellt sich nur langsam auf diese Anforderungen ein. Das Recruiting von Fachkräften aus dem EU-Ausland ist mit hohen gesetzlichen Hürden und haufenweise Bürokratie verbunden. Deshalb winken viele Unternehmer lieber ab und lassen Stellen unbesetzt. Lieber verlagern sie IT-Services und IT-Betrieb ins ferne oder nahe Ausland. Das ist bequem und relativ günstig. Jedoch wird so wertvolles Know-how für die Digitalisierung outgesourced und es wird versäumt, eigene Kompetenzen aufzubauen.
Die digitale Transformation ist längst Realität und wird alle Bereiche unserer Wirtschaft und unseres täglichen Lebens erreichen. Die Frage ist nicht, ob wir mitmachen wollen. Die Frage ist, ob wir – die Deutschen – in zehn Jahren noch einen Spitzenplatz unter den erfolgreichsten und innovativsten Ländern der Welt besetzen möchten. Ob wir aktiv gestalten oder zuschauen.
Unser Lagebericht macht dabei wenig Hoffnung, oder? Nun, das hängt ganz von uns ab. Einsicht ist ja bekanntermaßen der erste Schritt zur Besserung. Und der Status quo birgt Chancen. Wenn die Masse schläft, können die Aufgeweckten nach vorne preschen. Wer momentan ein ambitioniertes Digitalisierungsprojekt umsetzt, kann sich der Aufmerksamkeit der Medien sicher sein und räumt Innovationspreise ab. Wer mit Big Data richtig umzugehen weiß, kann einen massiven Vorsprung gegenüber seinen Mitbewerbern herausholen. Die ungenutzten Potenziale warten nur darauf, von findigen Unternehmern gehoben zu werden. Vielleicht von mir oder von Ihnen, wer weiß?
Die Technik ist vorhanden. Was fehlt, sind neue Geschäftsmodelle, neue Blickwinkel, neue Erfahrungen. Lassen Sie uns etwas daraus machen. Wir empfehlen jedem Unternehmen, eine Roadmap für die eigene digitale Transformation zu erstellen: Wo wollen wir hin? Wo stehen wir in einem, in drei, in fünf Jahren? Welche Bereiche wollen wir digitalisieren? Was sind unsere größten Herausforderungen? Welche Voraussetzungen müssen wir schaffen? Wir müssen langfristig denken, aber jetzt handeln. Den Luxus, unsere Digitale Agenda nochmals für drei Jahre in der Schublade reifen zu lassen, können wir uns nicht leisten.
Was ist zu tun? Als Start für Ihre digitale Agenda stellen wir – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – eine kleine Liste an Anregungen auf:
Unternehmen müssen strategisch und ganzheitlich denken. Digitalisierung darf nicht nur auf Prozessoptimierung und Kostensenkung eingeschränkt werden, sondern muss alle Bereiche einschließen. Welche neuen, datengetriebenen Geschäftsmodelle macht die Digitalisierung möglich? Welche neuen Arten der Zusammenarbeit? Wie lassen sich Marketing und Kundenservice verbessern?
Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen müssen in IT investieren und sie zur Chefsache machen.
Mitarbeiter müssen für die digitale Transformation qualifiziert werden. So verschwinden diffuse Ängste vor dem Arbeitsplatzverlust von selbst. Stattdessen werden Mitarbeiter begeistert mit neuen Techniken umgehen und selbst neue Ideen entwickeln.
Cloud-Services und exzellenten Outsourcing-Möglichkeiten zum Trotz: Jedes Unternehmen sollte auch eine eigene IT haben und eigenes Know-how in der Digitalisierung aufbauen. Nur so wird man dauerhaft innovativ bleiben.
Wir brauchen in der EU einen „digitalen Binnenmarkt”, was Rahmenbedingungen und gesetzliche Vorgaben betrifft.
Durchgängige und nutzerfreundliche E-Government-Angebote würden bürokratische Prozesse beschleunigen und Hürden senken.
Der IT-Fachkräfte-Markt ist global. Das Recruiting von EU-Ausländern muss endlich vereinfacht werden, damit unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt.
Investitionen des Mittelstands in Digitalisierungsprojekte sowie in Forschung und Entwicklung sollten steuerlich besser gefördert werden.
Der versprochene flächendeckende Breitbandausbau muss endlich umgesetzt werden.
Machen wir uns fit für den digitalen Alltag und die neue Arbeitswelt. Besuchen wir Seminare, lesen wir Bücher und Blogs, testen wir neue Apps und Services. Lernen wir programmieren. Klar können wir über die bösen Googles und Facebooks dieser Welt schimpfen. Oder wir können einfach selbst versuchen, die digitale Welt mitzugestalten und (ein bisschen) besser zu machen.