Innovationen nur im Produkt und seinen Merkmalen zu sehen, greift zu kurz. Daher hat die Aesculap AG, die Medizintechnik-Sparte des B. Braun-Konzerns, das werk_39 gegründet. Das Innovationslabor richtet seinen Fokus stärker auf Services und Geschäftsmodellinnovation. Als Projektpartner hat IBsolution gemeinsam mit dem werk_39 verschiedene innovative Anwendungen und Lösungen umgesetzt. Im Interview spricht Sören Lauinger, Vice President Intrapreneurship & Co-Creation von werk_39, über die Entstehung des Innovationslabors und die Herausforderungen, welche die tägliche Suche nach Innovationen mit sich bringt.
Das werk_39 ist das Innovationslabor von B. Braun. Der Untertitel „Beyond the product“ macht deutlich, dass wir keine Konkurrenz für unsere Forschungs- und Entwicklungsabteilung sind, sondern deren Arbeit um Themen ergänzen, die auf bestehenden Produkten aufsetzen. Dabei handelt es sich meistens um Services, Lösungen und Geschäftsmodellinnovationen.
Organisatorisch gesehen sind wir ein Cost Center, keine eigenständige Unit. Allerdings haben wir ein eigenes Gebäude bezogen, rund zweieinhalb Kilometer vom Werk der B. Braun-Sparte Aesculap in Tuttlingen entfernt. Wenn man von einem Geschäftsmodell sprechen möchte: Wir unterstützen unsere Kerngeschäftseinheiten, indem wir innovieren. Dabei fokussieren wir auf Services und Geschäftsmodellinnovation – also auf das, was bei der reinen Produktinnovation häufig nicht im Mittelpunkt steht.
Es war nicht so, dass jemand morgens unter der Dusche stand und die plötzliche Eingebung hatte, dass wir ein Innovationslabor brauchen. Es war eher eine Evolution. Das Team, das heute das werk_39 bildet, arbeitet überwiegend schon seit etlichen Jahren zusammen und war früher die Serviceinnovationseinheit innerhalb der Sparte Aesculap. werk_39 war dann der nächste logische Schritt, um der Innovation eine Heimat und ein Gesicht zu geben.
Das war der 6.März 2017, als wir in unsere heutigen Räumlichkeiten gezogen sind. Davor sind wir bereits eine gewisse Zeit mit dem Gedanken schwanger gegangen, ein eigenes Innovationslabor zu gründen. Wir haben über ein Jahr lang an der Konzeption gearbeitet und uns angeschaut, was Firmen in anderen Branchen diesbezüglich machen. Auf dieser Grundlage haben wir dann unsere Variante eines Innovationslabors definiert.
Sagen wir mal so: Es gab bestimmte Marktveränderungen, auch im internationalen Maßstab, die dafür gesorgt haben, dass wir uns die Frage stellten: Wie können wir darauf reagieren? Ich weiß noch genau, wie wir der Geschäftsleitung verschiedene Initiativen vorgestellt haben. Punkt 6 der Agenda trug den Arbeitstitel „Co-Creation Center Brain Factory“. Damit sind wir bei der Geschäftsleitung auf offene Ohren gestoßen und erhielten die Aufgabe, das Konzept weiter auszuarbeiten.
Anschließend haben wir uns viele Beispiele angeschaut: Woran forscht DHL in seinem Innovation Center? Welches Konzept liegt dem SAP AppHaus in Heidelberg zugrunde? Wie macht es die Lufthansa in ihrem Innovation Hub mitten in Berlin? Wir sind auch auf eine private amerikanische Krankenhauskette gestoßen, die in der Nähe des Silicon Valley ein Innovationslabor gegründet hat. Einige unserer Kunden betreiben ebenfalls Innovationslabore. Diese ganzen Anregungen haben die Idee ziemlich beschleunigt.
Steve Jobs hat einmal gesagt, dass er lieber Pirat ist, als in die Navy zu gehen. Ich glaube, das ist die richtige Grundhaltung. Man braucht einen gewissen Antrieb, um Dinge zu verändern und groß genug zu denken. Das Credo unseres Teams ist: Wir fragen lieber um Vergebung als um Erlaubnis. Wenn wir von allen Mitarbeitern unternehmerisches Denken und Handeln einfordern, muss ich diese Grundidee vorleben. Man muss die Dinge selbst in die Hand nehmen. Manchmal werden einem dann auch Grenzen aufgezeigt. Aber das ist besser, als um Erlaubnis zu fragen, denn das sorgt nicht für Agilität und unternehmerisches Handeln. Damit sind wir „Piraten“ in der „Navy“.
Ursprünglich hatte unser Innovationslabor den Arbeitstitel „Brain Factory“. Allerdings haben wir kalte Füße bekommen, weil sowohl die entsprechende .com-Domain als auch die .de-Domain vergeben waren. Kurz vor Weihnachten 2016 hatten wir exakt drei Tage Zeit, um einen neuen Namen zu kreieren. Wir haben uns schnell für den deutschen Begriff „Werk“ entschieden, weil wir ein deutsches Unternehmen sind. Die 39 bezieht sich auf das Gründungsjahr von B. Braun: 1839. Mit dem Namen werk_39 sind wir sehr zufrieden.
Da gibt es verschiedene Kriterien. Zum einen sorgt unsere Arbeit für positive Schlagzeilen, aber das reicht als Rechtfertigung natürlich nicht aus. Zum anderen messen wir jedes Projekt daran, inwieweit es auf zusätzliches Wachstum oder die digitale Transformation einzahlt. Anhand einer Matrix können wir die einzelnen Projekte verorten. Daran lassen wir uns messen.
Vielleicht gehört es auch zu unserer Mission, den Begriff Innovation zu entmystifizieren und den handwerklichen Aspekt, also die Innovationspraxis, stärker in den Vordergrund zu stellen. Denn Innovation ist immer auch ein großes Stück Handwerk, harte Arbeit. Nicht umsonst heißt es „1 % ist Inspiration und 99 % sind Transpiration“. Aber auf welcher Grundstruktur und Methodik beruht diese harte Arbeit? Wir glauben sehr stark an Lean Start-up – eine von Eric Riess postulierte Methodik, um die in den vergangenen zehn Jahren eine richtige Bewegung entstanden ist.
Wir sind in der Medizintechnik tätig, einer Branche, in der alles stark reguliert ist – auch die Innovationen. Wir möchten jedoch nicht zwingend ein neues Medizinprodukt kreieren. Stattdessen konzentrieren wir uns vor allem auf Dinge, die nicht reguliert sind, zum Beispiel Prozessverbesserungen oder die digitale Unterstützung für unsere Kunden, die Krankenhäuser. Dabei hilft uns das Grundprinzip von Lean Start-up, das darauf ausgerichtet ist, ein Problem wirklich zu verstehen Wir starten mit Suchfeldern, die aus den Geschäftsbereichen kommen. So stellen wir sicher, dass wir unsere Innovationen nicht in Wolkenkuckucksheim vorantreiben, sondern unsere multidisziplinären Teams immer stark in die Business Units verlinkt sind.
Man muss Verständnis für das Kundenproblem entwickeln und sich in die Lage des Kunden versetzen. Aus verschiedenen Lösungsansätzen ermitteln wir den Problem-Solution-Fit, also die Lösung mit dem größten Nutzen für den Kunden. Anschließend prüfen wir die technische Machbarkeit – oft mit Beteiligung des Kunden, am besten beim Kunden. Es geht nicht um einen fertigen Prototyp, vielmehr gehen wir schlank vor. Wenn etwas nicht funktioniert, wird die Idee verworfen. Lässt sich die Idee hingegen validieren, geht es im nächsten Schritt um den Solution-Market-Fit: Können wir daraus ein Geschäftsmodell entwickeln, für das der Kunde bereit ist zu bezahlen?
Die multidisziplinären Teams, die im werk_39 arbeiten – manche würden sie „Corporate Start-ups“ nennen – müssen vor allem das Prinzip „Build – measure – learn“ beherrschen. Wir machen nicht einfach nur Kunden- oder Expertenbefragungen. Es gibt andere Möglichkeiten, wie ich per Experiment eine Verhaltensänderung des Kunden darstellen sowie quantitativ und qualitativ messen kann. Die Ergebnisse der Experimente geben dem Team vor, wie es weitergeht. Man muss erkennen, wenn es gute Gründe gibt, das Projekt zu stoppen, weil das Experiment gezeigt hat, dass die definierten Größenordnungen oder Ziele nicht erreicht werden. Es geht darum, die risikoreichsten Annahmen im Wochenrhythmus zu verifizieren oder zu falsifizieren. Diese Vorgehensweise verändert die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden, grundlegend. Daran müssen wir kontinuierlich arbeiten, wenn die Decision-Teams in Jurys über das Budget und die Ressourcenverteilung entscheiden.
Dass die Teams Experimente mit den Kunden durchführen und anhand der Ergebnisse dieser Experimente entschieden wird, macht aus meiner Sicht einen großen Teil der Transformation aus. Niemand ist allwissend. Wir müssen verstehen, dass das Wissen in den Teams liegt, die sich eingehend mit der Materie befasst haben In dieser Erkenntnis liegt riesiges Potenzial und sie liefert Antworten, wie sich die Industrie in den kommenden Jahrzehnten aufstellen muss.
Wenn die Mitarbeiter den Anspruch an sich selbst haben, hohe Innovationshürden zu nehmen und dabei den Anwender begeistern möchten, sind sie bei uns richtig. Manche sind des bisherigen Systems überdrüssig. Das Produktmanagement definiert auf 180 Seiten, was entwickelt werden soll. Das funktioniert vielleicht bei Dingen mit geringem Innovationsgrad, also inkrementeller Innovation. Wenn wir allerdings einen hohen Innovationsgrad erreichen wollen, herrscht oft viel Ungewissheit. Und diese Ungewissheit gilt es zu reduzieren.
Das Recruiting läuft einerseits über das Intrapreneurship-Programm: Wir stellen multidisziplinäre Teams aus dem Kernbereich zusammen. Aber wir haben natürlich auch ein Bewirtschaftungsteam im werk_39 mit gewissen Domänenexperten, Spezialisten und Innovationsmentoren – wir nennen sie „venture specialists“ und „venture consultants“.
werk_39 hat sich mittlerweile einen guten Namen gemacht, sodass wir viele Initiativbewerbungen bekommen. Außerdem arbeiten wir eng mit Hochschulen zusammen und erhalten dadurch gute Praktikanten. Wenn es für beide Seiten passt, sind wir bestrebt, sie langfristig an uns zu binden.
Die Geschäftsleitung spielt eine zentrale Rolle. Man braucht die Rückendeckung von ganz oben. Auch externe Partner wie Hochschulen sind wichtig. Noch viel wichtiger sind Kunden, die erkennen, dass sie die großen Dinge möglicherweise nicht alleine gestemmt bekommen und unsere Expertise nutzen können. Wir nennen das „Co-creation“. Dabei können durchaus auch Marktbegleiter eine Rolle spielen. Hinzu kommen Technologiepartner, also Unternehmen mit einer gewissen Domänenexpertise, etwa im IT-Umfeld. Diese Zusammenarbeit ist vor allem in den Phasen wichtig, in denen wir Dinge ausprobieren.
Wir haben zu einem ganz frühen Zeitpunkt von werk_39 mit SAP zusammengearbeitet, weil wir schon immer vom AppHaus in Heidelberg beeindruckt waren und von der Art und Weise, wie man dort an das Thema Innovation herangeht. Die Kollegen von SAP haben uns IBsolution empfohlen. So wurden wir Partner und haben eng zusammengearbeitet. Dabei sind einige spannende Lösungen entstanden. Und ich hatte von Anfang den Eindruck: IBsolution ist immer offen für alle Schandtaten im positivsten Sinne.
Ich halte es mit dem Innovationsguru Dan Toma, dem Co-Autor des Buchs „The Corporate Startup“, das ich übrigens wärmstens empfehlen kann. Dan Toma sagt: „Building an innovation lab to be more innovative is like washing hands to stay healthy. Undoubtly helpful, but by far not enough.“ Das Ziel muss es sein, die Dinge möglichst schnell aus dem Innovationslabor in die gesamte Breite des Unternehmens zu tragen. Hat ein Unternehmen eine entsprechende Innovationskultur, ist es der Königsweg, einzelne Innovationseinheiten in den Funktionsbereichen zu platzieren, zum Beispiel in der Finanzabteilung oder in der Produktion. Wir haben einen anderen Weg beschritten: Wir sind vom Firmencampus weggezogen und sind jetzt in der Lage, Methoden oder Erkenntnisse, die bei uns funktionieren, gezielt in das Unternehmen zu diffundieren. Nur ein Innovationslabor zu bauen und zu hoffen, dass dadurch alles gut wird, reicht nicht aus. Das ist nur Innovationstheater und bringt dem Unternehmen nichts.