Digitalisierung ist mehr als Technologie und Prozessoptimierung. Sie bringt neue Geschäftsmodelle mit sich, die gestandene Industrien in Bedrängnis bringen können. Zahlreiche Praxisbeispiele belegen dies. Was können Unternehmen aus solchen Beispielen lernen? Und wie lautet die passende Antwort auf die Herausforderungen der Digitalisierung?
Dass Digitalisierung keine Modeerscheinung ist, die vorbeigeht, hat sich glücklicherweise herumgesprochen. In weiten Teilen der deutschen Wirtschaft wird Digitalisierung jedoch immer noch auf Prozessoptimierung und Effizienzsteigerung eingeengt – man tausche analoge durch digitale Technik.
Diese These wird durch eine von IBsolution durchgeführte Kundenbefragung im Rahmen der Marktstudie „Die 95 Thesen der Digitalisierung” bestätigt. Fragt man Vertreter deutscher Unternehmen nach einer Definition der Digitalisierung, ist man sich einig, dass es mehr ist als die Optimierung von Prozessen. Fragt man allerdings nach den Zielen der Digitalisierung, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Die Erweiterung bestehender Produkte und eine Produktivitätssteigerung werden als wichtigste Ziele genannt (Abb. 1).
Diese Denkweise ist gefährlich, sie führt in eine Sackgasse. Durch Effizienzsteigerung allein können Unternehmen ihr langfristiges Überleben nicht sichern. Anfang des 20. Jahrhunderts wollten die Menschen keine schnelleren und genügsameren Pferde, sie wollten Autos. Und selbst eine Senkung des Briefportos auf Null hätte den Aufstieg der E-Mail in den frühen 1990er-Jahren nicht verhindert.
Niemand kann sich der Digitalisierung entziehen
Digitalisierung ist keine Technologie oder Produktionsmethode. Sie ist ein Megatrend, ähnlich wie die Globalisierung oder der Klimawandel. Sie geht mit tiefgreifenden Änderungen der Märkte und des Konsumentenverhaltens einher.
Niemand kann sich einem solchen Trend entziehen. Unternehmen können lediglich entscheiden, ob sie ihn als Vorreiter mitgestalten oder abwarten und ihm hinterherhecheln wollen. Die dritte, noch weniger reizvolle Alternative wäre der frühere oder spätere wirtschaftliche Tod. Ist das realistisch oder Panikmache?
Konzerne verschwinden, wenn sie nicht Schritt halten
Zwei Forscher der Tuck School of Business im US-Bundesstaat New Hampshire untersuchten die Lebensdauer von börsennotierten US-Konzernen. Dafür werteten sie eine Datenbank mit wirtschaftlichen Kennzahlen von 30.000 amerikanischen Firmen aus. Um die Vergleichbarkeit zu erhöhen, teilten die Wissenschaftler den Zeitraum zwischen 1960 und 2009 in Zehn-Jahres-Kohorten ein.
Sie entdeckten Interessantes: Ein Unternehmen, das vor 1970 an der Börse notiert war, hatte eine 92-prozentige Chance, fünf Jahre später noch zu existieren. Ein Jahrzehnt später lag diese Chance immer noch bei 88 %. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts setzte eine rapide Änderung ein. 2009 war die Fünf-Jahres-Überlebenschance eines börsennotierten Unternehmens auf 63 % gesunken.
Sicherlich ist die Digitalisierung nicht der einzige Grund für diese Entwicklung, aber einer der wichtigeren. Die Digitalisierung beschleunigt bestehende Entwicklungen um ein Vielfaches. Die Studie zeigt, dass sich selbst stabile Unternehmen ständig neu erfinden müssen, um nicht von aufsteigenden Wettbewerbern überholt zu werden.
Führende Unternehmen erliegen immer wieder dem Irrtum, sie könnten durch die permanente Optimierung und den Ausbau ihres Geschäftsmodells ihre Führungsrolle behaupten. Dabei übersehen sie Trends und neue digitale Geschäftsmodelle, die ihren Produkten keine Konkurrenz machen, sondern sie gleich komplett überflüssig werden lassen.
Digitalisierung unterschätzt: Praxisbeispiel Kodak
Konkrete Beispiele aus der Historie gibt es genügend. Die Firma Kodak hat leider die unrühmliche Aufgabe, immer wieder als Paradebeispiel für die Missachtung der Digitalisierung herhalten zu müssen. 1975 erfand Kodak die Digitalkamera, ließ sie aber in der Schublade verschwinden. Das angestammte Geschäftsmodell, der Verkauf von analogen Filmen, war einfach zu lukrativ. Erst 1986 lancierte sie die erste kommerzielle Digitalkamera der Welt. 1990 wurde die Foto-CD entwickelt, um die analoge Kamera irgendwie mit dem digitalen Zeitalter zu verbinden. 1994 brachte Kodak die erste Digitalkamera unter 1.000 US-Dollar auf den Markt. Noch um die Jahrtausendwende war Kodak Weltmarktführer bei Highend-Digitalkameras.
Dann ging es stetig bergab. Während die Fotografie nach und nach vollständig digitalisiert wurde, hatte Kodak bis 2010 mehrere Umstrukturierungen, Verkäufe von Geschäftsbereichen und strategische Neuausrichtungen hinter sich gebracht. Nach und nach stellte Kodak die Produktion von Fotofilmen und Kameras ein und gab schließlich 2013 das ehemalige Kerngeschäft komplett auf.
Studiert man die Geschichte von Kodak genau, war das Unternehmen weder zu spät am Markt, noch waren die neuen digitalen Produkte schlecht. Einer der vielen großen Fehler von Kodak war, dass das Management sein etabliertes Geschäftsmodell mit dem Verkauf von Fotofilmen nicht gefährden wollte. Digitalkameras wurden erst gar nicht, dann nur halbherzig auf den Markt gebracht – als Ergänzung zum traditionellen Sortiment. Kodak glaubte, mit scheibchenweisen Verbesserungen und Produktneuheiten werde man seine Stellung schon halten können.
Der Fehler: Produktentwicklung statt digitale Geschäftsmodelle
Kodak übersah, dass sich der Markt komplett gewandelt hatte. Durch die neuen digitalen Möglichkeiten hatten sich die Wünsche der Konsumenten an die Fotografie radikal geändert. Es ging nicht mehr darum, ob eine Kamera mit einem Film oder einer Speicherkarte bestückt war, ob ich ein Foto auf Papier drucken oder auf CD brennen möchte. Und um Fotoqualität ging es im Massenmarkt erst recht nicht mehr.
Die Menschen wollten ihre Fotos bearbeiten, mit Emojis schmücken, versenden und mit Freunden teilen. Nicht mehr Kameras und Filme waren das Geschäftsmodell, sondern Plattformen und Services für Foto-Freunde, das „Ökosystem”. Kodak hatte für diese Ära schlicht nichts zu bieten. Apple und Google hatten den Markt längst übernommen.
Aus diesem Beispiel lässt sich eines gut erkennen: Es geht bei der Digitalisierung nicht darum, dass ein Produkt durch ein besseres ersetzt wird. Eine analoge durch eine digitale Kamera und diese wiederum durch ein Foto-Smartphone. Oder eine Kassette durch eine Schallplatte, diese durch eine CD und diese schließlich durch MP3-Dateien. Es geht nicht um normale Produktlebenszyklen, die sich mehr oder weniger prognostizieren lassen und mit denen man umgehen kann.
Digitale Geschäftsmodelle wälzen komplette Branchen um
Die Gefahr – und natürlich zugleich die Chance – der Digitalisierung liegt darin, dass neue Geschäftsmodelle alte Geschäftsmodelle und ganze Branchen überflüssig machen können. Solche disruptiven Entwicklungen gab es auch früher. Durch die Digitalisierung gehen solche Entwicklungen jedoch sehr schnell vonstatten, innerhalb von wenigen Jahren. Unterstützt werden solche Umwälzungen durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Veränderungen. Dazu zwei Beispiele:
Disruption durch Digitalisierung in der Zeitungsbranche
In den 1990er-Jahren gehörte die Lektüre einer gedruckten Zeitung für den Durchschnittsbürger zum normalen Tagesablauf. Das Alleinstellungsmerkmal (der USP) einer Zeitung lag in der redaktionellen Auswahl von Inhalten, die von professionellen Journalisten recherchiert und geschrieben wurden. Auf die steigende Popularität des Internets reagierten die Verlage zunächst damit, dass sie das Konzept einer Tageszeitung eins zu eins ins Digitale verlagerten.
Allerdings war das Internet nicht nur eine neue Technologie, die Papier durch Pixel ersetzte. Relativ schnell lernten die Internetnutzer die Möglichkeit schätzen, sich ihre Informationen selbst zusammenzusuchen und diese direkt mit anderen Nutzern zu teilen. Statt redaktioneller Zusammenstellungen kam auf einmal der Trend zum personalisierten Medienkonsum auf.
Die Zeitungen verloren ihre Stellung als zentraler Kanal für Nachrichten und damit dramatisch an Reichweite. Heute sind soziale Netzwerke wie Facebook und YouTube die wichtigsten Informationsquellen im Internet. Im Bereich Film und Fernsehen (Streaming-Dienste) passiert Ähnliches, wenn auch noch nicht so ausgeprägt.
Disruption durch Digitalisierung in der Automobilbranche
Die Umwälzung einer ganzen Branche lässt sich aktuell lehrbuchmäßig an der Autoindustrie beobachten. Es hätte gar keinen Dieselskandal gebraucht, um sehen zu können, dass sich das Geschäftsmodell „Möglichst vielen Menschen ein eigenes Auto verkaufen” langsam, aber sicher selbst obsolet macht. Der Klimawandel sowie überlastete und verpestete Großstädte zwingen Regierungen dazu, den Individualverkehr einzuschränken und Fahrverbote zu erlassen. Viele junge Stadtbewohner wollen kein Auto mehr besitzen. Carsharing-Angebote und alternative Mobilitätskonzepte machen den Autoherstellern Konkurrenz.
Uber hat diesen Trend frühzeitig erkannt und ist innerhalb von Jahren zum größten Taxiunternehmen der Welt aufgestiegen – ohne ein einziges Fahrzeug zu besitzen. Seine Dienstleistung basiert auf einer digitalen Plattform und auf Algorithmen. Uber hat zudem davon profitiert, dass in vielen westlichen Ländern Jobs für Niedrigqualifizierte wegfallen, die jetzt nach neuen Verdienstmöglichkeiten suchen: ein nie endender Strom an günstigen Taxifahrern.
Auch an diesem Beispiel wird deutlich, dass reine Prozessoptimierung und die Entwicklung neuer Produkte den Autoherstellern nur bedingt weiterhilft. Alle Verbrenner einfach durch Elektroautos zu ersetzen, löst weder Umweltprobleme noch werden Straßen und Parkplätze dadurch leerer. Autos werden auch nicht plötzlich wieder zu Statussymbolen, nur weil sie technisch etwas raffinierter sind.
Die Autokonzerne müssen sich zu Mobilitätsdienstleistern weiterentwickeln. Sie tun das bereits in kleinem Stil mit eigenen Carsharing-Flotten oder datengetriebenen Services für Autobesitzer. Sie kaufen Anbieter für Geodaten (HERE Maps) und fördern digitale Start-ups. Im Großen und Ganzen hofft man jedoch, dass der Status quo mithilfe der Politik noch möglichst lange bewahrt werden kann.
Sogar digitale Unternehmen werden Opfer der Digitalisierung
Anfang des Jahres 2017 wurde bekannt, dass die Sanierung des US-Unternehmens Yahoo gescheitert ist. Die Internetsparte war zuvor schon vom Telekommunikationsanbieter Verizon übernommen worden. Der deutlich geschrumpfte Konzern wurde in Altaba umbenannt und firmiert nur noch als Investment-Company.
Yahoo gehörte zu den Pionieren des Internets und war bis in die 2000er-Jahre einer der populärsten Anbieter für E-Mail-Accounts, meistgenutzte Suchmaschine und Nachrichtenseite. Der größte Teil des Umsatzes wurde mit Online-Werbung verdient. Doch als Google den Markt mit monatlich neuen Innovationen aufrollte und das Geschäft immer mehr dominierte, hatte Yahoo schlicht nichts entgegenzusetzen. Den Managern fiel bis heute kein neues Geschäftsmodell ein, um die bröckelnden Werbeumsätze zu kompensieren.
Amazon kann man getrost die Weltherrschaft im E-Commerce bescheinigen. Doch selbst dort wissen sie, wie schnell sich der Wind drehen kann, wie schnell ein Neuling einen Branchenriesen stürzen kann – sie haben es schließlich mehrmals praktiziert. Obwohl der Online-Handel weiter fast ungebremst wächst, diversifiziert Amazon „vorsichtshalber” sein Angebot.
Amazon gehört zu den größten Betreibern von Rechenzentren. Sollte die Digitalisierung neue starke Wettbewerber für Amazon hervorbringen, haben sie nicht nur ein zweites Standbein. Sie würden sogar vom Erfolg ihrer Konkurrenten profitieren. Rechenzentren und Infrastruktur werden im digitalen Zeitalter immer gebraucht. Wahrscheinlich hat Amazon-CEO Jeff Bezos aufmerksam Yahoos Abstieg verfolgt.
Niemand kann vorhersagen, welche digitalen Innovationen sich durchsetzen
Niemand kann vorhersagen, wie lange aktuelle Geschäftsmodelle noch funktionieren und durch welche neuen sie abgelöst werden. Zu viele unkalkulierbare globale Entwicklungen und gesellschaftliche Trends spielen eine Rolle. Die meisten Innovationen beginnen in einer kleinen, belächelten Nische. Welche davon wird sich durchsetzen?
Werden wir uns in zehn Jahren alle von schlecht bezahlten Uber-Chauffeuren fahren lassen oder Carsharing nutzen? Oder weder noch, weil uns autonome Fahrzeuge dann selbst im abgelegensten Dorf überall hinbringen können? Oder werden wir überhaupt nirgendwo mehr hinfahren, weil wir dank perfekter Virtual-Reality-Illusionen die ganze Welt von zuhause aus bereisen können? Eher unwahrscheinlich. Aber Sie verstehen, was gemeint ist.
Die einzige Chance: Eigene digitale Geschäftsmodelle entwickeln
Abzuwarten und seine traditionellen Geschäftsmodelle zu schützen, ist für Unternehmen keine zukunftsfähige Strategie. Effiziente Prozesse und ausgereifte Produkte allein reichen nicht aus. Denn es spielt keine Rolle, wie gut oder günstig ein Produkt ist, wenn niemand mehr das Produkt braucht. Weil es inzwischen eine ganz andere Lösung für ein Problem gibt.
Unternehmen müssen eigene digitale Geschäftsmodelle entwickeln. Dann austesten, verwerfen, neu entwickeln, wieder testen, verbessern, wieder testen … Nur so können sie herausfinden, welche Geschäftsmodelle funktionieren und welche nicht. Natürlich werden neue Angebote dem eigenen Kerngeschäft Konkurrenz machen und es teilweise sogar kannibalisieren. Doch was ist besser: Sich selbst kannibalisieren oder vom Wettbewerb kannibalisiert werden?
In drei Phasen zum digitalen Geschäftsmodell
Wie kommt ein produzierendes Unternehmen aber nun zu einem digitalen Geschäftsmodell? Selbst wenn die Ideen da sind, wo beginnt man? Wer ganz am Anfang steht, fühlt sich durch Erfolgsbeispiele wie Uber, Amazon und Co. wahrscheinlich mehr eingeschüchtert als ermutigt. Solche Beispiele bieten einem traditionellen Mittelständler wahrscheinlich wenig praktische Hilfe bei der Realisierung einer eigenen Digitalisierungsstrategie.
Die Digitalisierungsexperten der IBsolution haben deshalb ein Drei-Phasen-Modell erarbeitet, mit dem Unternehmen Schritt für Schritt von einem physischen Produkt zu einem digitalen Geschäftsmodell kommen. Die drei Phasen sind sogar für Laien einfach verständlich. Im nächsten Blog-Artikel werden die drei Phasen ausführlich beschrieben und anhand von vielen Praxisbeispielen erklärt.